W220: Vorderachsen-Odyssee Zwei Millimeter Gummi machen den Unterschied

[Unbezahlte und unbeauftragte Werbung]

Nachdem ich an anderer Stelle im Netz meine Erlebnisse mit der geräuschvollen Vorderachse unseres 1998er W220 zum Besten gegeben habe, möchte ich nun auch die Leser auf „zweikommadrei.de“ daran teilhaben lassen.

Kurz vorab: Vor genau einem Jahr, im Januar 2018, kauften wir einen frühen chalcedonblauen W220 (Farbcode 347)  zu einem Schnäppchenpreis.

 

Zwar machten seine Katalysatoren bei der Probefahrt recht unangenehme Geräusche und bedurften offenkundig des Austausches, aber selbst dies eingepreist, war der Kaufpreis, angesichts des sonstigen Fahrzeugzustands, fast peinlich niedrig. Die vier 19 Jahre alten Abgasreiniger wurden also schon wenige Tage später gegen nagelneue getauscht.

 

Der mittlerweile 20 Jahre alte Wagen steht übrigens noch heute nahezu rostfrei da. Beim W220 ist das bekanntermaßen nicht selbstverständlich.

 

Nun zu dem Thema mit dem ich mich fast ein Jahr lang   befasst habe:

Ein leichtes Poltern und Schlagen von vorne rechts, scheinbar aus Richtung Beifahrerfußraum, trat während unseres Skiurlaubs  in den Alpen, wenige Wochen nach dem Kauf des 220ers in Erscheinung. Zunächst so leise, dass MitfahrerInnen glaubten, ich sähe, bzw. höre schon Gespenster oder ich sei überempfindlich.

Wer selbst einen Mercedes fährt, noch dazu eine S-Klasse, der erwartet Perfektion. Störgeräusche, seien sie noch so leise, sind keinesfalls akzeptabel. Einen Fahrer eines herkömmlichen Kraftfahrzeugs mag so etwas nicht  stören. Den Sternfahrer sicherlich schon.

Meine Vermutung war jedenfalls schon  damals: Es hat etwas mit dem Vorderachsstabilisator zu tun, weil er am Fahrschemel ganz in der Nähe des Fußraums gelagert ist und  aus dieser Richtung die Geräusche zu kommen schienen.

Nach unserem Skiurlaub, die Witterung in Berlin und Brandenburg war bereits vergleichsweise mild, war das Geräusch deutlich leiser und  praktisch nicht mehr zu orten. Eine Werkstatt prüfte das Fahrwerk äußerst gründlich und stellte keinen nennenswerten Verschleiß fest. Nun gut, ich beließ es dabei, schließlich war über den folgenden Sommer nichts auffälliges wahrnehmbar.

Selbst während unseres Roadtrips im Sommer entlang des Mittelmeers und quer über die Alpen blieb die Vorderachse ausnahmslos stumm. Das Thema war bald vergessen.

 

Als sich der Herbst schließlich von seiner kühlen Seite zeigte, meldete sich Madame Vierlenker-Vorderachse dafür um so lauter und mit Nachdruck zurück.

Man konnte fortan ihre Schläge sogar am Boden des vorderen Fußraums spüren.

Mein Verdacht, als Ursache käme der Stabilisator in Betracht, wurde seitens der Werkstatt meines Vertrauens verworfen. Dort hieß es: Stabi? Nein. Definitiv nicht. Die Gummis sind tadellos, nirgends ist Spiel feststellbar. Man tauschte stattdessen Radlager und Traggelenke, die tatsächlich erhöhtes Spiel aufwiesen. Aus der (geheizten) Halle gefahren, war nun alles wieder gut. Himmlische Ruhe. Aber schon am nächsten Tag war das Poltern und Schlagen wieder da. Sehr Seltsam.

Tage später, der W220 stand wegen des Polterns  wieder in der Werkstatt, wurden die unteren Querlenker getauscht. Auch sie waren bereits beschädigt, ihre Gummihüllen um die Auflager der Luftfederbeine waren ausgefranst.  Aus der (ebenfalls geheizten) Halle herausgefahren, war erneut alles fein. Eine genussvolle Heimfahrt folgte.

Am nächsten Tag jedoch polterte mir wieder der Gruß meiner Diva im Vorderwagen entgegen: Hallo Klaas! Ich bin noch da! *confused*

Da das Geräusch nach wie vor aus dem Fußraum kam, habe ich die Werkstatt gebeten, die Stabigummis zu tauschen, auch wenn sie dort überzeugt waren, die Gummis seien nicht ursächlich. Gesagt, getan . Nach erledigtem Tausch der Stabigummis aus der (warmen) Halle herausrausgefahren, war wieder alles super. Noch.

Aber am nächsten Morgen polterte es wieder aus dem Fußraum. Aber dieses Mal noch viel schlimmer als zuvor! Ich dachte, der Vorderwagen bricht auseinander. Als würde jemand mit einem Hammer von unten ans Auto schlagen. Nach 15 Minuten Stadtverkehr trat jedoch langsam Ruhe ein, das Schlagen war kaum noch hör- und spürbar. Interessant!

Da sonst alles in Frage kommende durchgetauscht worden war, und das Geräusch nach einer gewissen Fahrzeit leiser wurde, dachte ich: Die Stoßdämpfer (Federbeine) sind es! Möglicherweise werden die Dämpfer im Fahrbetrieb warm, so dass sich irgendwo im Innern durch Wärmeausdehnung unerwünschtes Spiel verringert und das Geräusch deshalb verringert wird.

Ich bin also mit dem (warmen) Auto auf einen Rüttelprüfstand gefahren, um die Stoßdämpfer prüfen zu lassen.  Der Sachverständige, der unseren W220 auf dem Rüttelprüfstand untersuchte, befand das Auto für tadellos, die Dämpferwerte waren aus seiner Sicht noch sehr gut. Er (und ich) hörte beim Test auch nichts ungewöhnliches. Ich solle einfach weiterfahren, sagte er stöhnend, bis es richtig und dauerhaft laut wird. Vielleicht findet man dann etwas. Hm, nicht gerade eine zufriedenstellende Auskunft. Ich denke, er glaubte mir nicht.

Nun war mir bekannt, dass ein Dämpftest bei adaptiver Dämpfung wenig Aussagekraft hat, weil das System die Dämpferhärte ständig anpasst. Also haben Sohnemann und ich beide Federbeine der Vorderschse dennoch in Eigenregie erneuert.

Kleine Anmerkung:  Beim Luftfahrwerk „AIRmatic“ (Adaptive Intelligent Ridecontrol) bilden die vier Luftfedern mit ihrem jeweiligen Stoßdämpfern eine Baueinheit, das Luftfederbein. Entgegen der landläufigen Vorurteile ist die Fehlersuche an der AIRmatic, aufgrund ihres simplen Aufbaus    -das ist kein Scherz- relativ einfach. Noch einfacher gestalten sich Reparaturen hieran. Zum Beispiel der Tausch der Federbeine. Prinzipbedingt braucht es keinen Federspanner. Luftablassen genügt.

Der Tausch der Federbeine wurde lediglich durch eine kleine Innensechskantschraube behindert: Die Madenschraube am rechten Federbein war bei der vorherigen Reparatur (Querlenker, s. oben) offenbar derart festgezogen worden, dass sie sich nur noch mittels einer Flex befreien ließ. Das kostete Zeit. Ansonsten kann man pro Federbein ca. 30 bis 45 Minuten veranschlagen. Mehr dazu bei Bedarf auf YouTube.

 

Aus der (ebenfalls beheizten) Selbsthilfewerkstatt  im Osten Berlins herausgefahren, hörte sich alles sehr gut an, man hörte nämlich nichts mehr. Zudem war die Vorderachse jetzt schön straff und lenkpräzise. Meine alten Federbeine waren noch die Originalen von 1998, also 20 Jahre alt!

Damit bestätigte sich, dass adaptive Dämpfer mit guten Prüfstandwerten dennoch ihre Fitness verloren haben können.

Aber es kam, wie wie es kommen musste: Am nächsten Morgen polterte es wieder aus dem unteren Vorderwagen.  Und wie schon üblich, verschwand das Geräusch nach einiger Fahrzeit.

Hm… Grübel… Was ändert sich beim Fahren? Üblichweise die Temperatur an diversen Stellen im Auto. Und wo besonders? Am Kat. Und was ist direkt neben den Kats verbaut? Die Stabilagerung mit ihren Gummis. Aber die Gummis waren doch schon erneuert!? Sollten es doch die Federbeine sein? Die sind auch neu, gerade selbst eingebaut. Vielleicht hat man mir ein defektes Federbein geschickt? Kommt ja vor.

Überlegung: Fehler aufgrund der bisherigen Erkenntnisse eingrenzen. Also einfach mal den Kat (und damit die Stabilagerung) heiß werden lassen, aber ohne zu fahren. So bleiben die Stoßdämpfer kalt. Also kurzerhand an einem Samstagmorgen den Motor 45 Minuten im Leerlauf laufen lassen. Dadurch wurde der Stabi schön warm, die Federbeine aber nicht. Die anschließende Fahrt zeigte: Keine Geräusche. Erkenntnis: Warmer Stabi(gummi) = Kein Poltern. Die Luftfederbeine haben (in diesem Fall) demnach keinen Einfluss.

Offenbar schrumpften die neuen Stabigummis bei Temperaturen unter 10 bis 15°C derart, dass in deren Lagerung ein erhebliches Spiel auftritt und der Stabi sich hierdurch soweit bewegen kann, dass er Schläge erzeugt.

Ich muss dazu sagen, dass Mercedes-Benz einen Tausch nur der Stabilisatorgummis alleine nicht vorsieht (es gibt kein offizielles Ersatzteil), sondern nur den ganzen Stabi mit Gummis als ein Teil verkauft. Die Gummis sind mit dem Stabilisator ab Werk fest verklebt. Die Drehbarkeit des Stabilisators ergibt sich also auschließlich aus der Torsion der Stabigummis.

Beim Tausch der Solo-Gummis ohne den Stabilisator selbst müssen diese mühsam mit einem Messer vom Stabi geschält werden, wobei anschließend die Kinematik verändert ist, da sich der Stabi nun mit vergleichsweise geringerer Kraft  in seiner Lagerung drehen kann . Der Einbau von Aftermarket-Gummis ist also eigentlich  nicht die perfekte Lösung.

Mit dieser Erkenntnis, dass bei tiefen Temperaturen zu viel Spiel in der Stabi-Lagerung vohanden ist, bin ich auf die Hebebühne gefahren und habe testweise zwischen oberer Lagerschale und den Stabigummis eine zusätzliche Lage Gummi (ein Stück einer Waschmaschinen-Dämmmatte) eingelegt, um den Stabi nach Montage der unteren Lagerschale straffer, also spielfrei,  in seiner Lagerung zu halten. Diese kleine Maßnahme führte endlich zum Erfolg.

Seither ist die Vorderachse wieder leise, kein Poltern oder Schlagen, bei jeder Temperatur, in jeder Fahrsituation.

Die nächsten Tage werde ich beim „Freundlichen“ (Szene-Jargon für Mitarbeiter des Ersatzteiltresens bei Mercedes-Benz) einen neuen Vorderachsstabilisator mit Gummis und neue (untere) Lagerschalen besorgen und einbauen.

Lange Rede kurzer Sinn: Geräusche von der Vorderachse können wirklich überall ihre Ursache haben. Manchmal auch an Orten, die die Fachwerkstätten für ausgeschlossen halten.

Ich könnte mich natürlich darüber ärgern, dass wir für viel Geld fast die komplette Vorderachse saniert haben, obwohl es letztlich nur an wenigen Millimetern Gummi für ein paar Cent fehlte. Aber die getauschten Teile waren allesamt tatsächlich ihres Alters entsprechend verschlissen, bis hin zu den Stoßdämpfern, wie sich nach deren Tausch sofort zeigte. Außerdem haben wir sehr viel über die Vorderachsmechanik des W220 gelernt.

Es hat sich also gelohnt, nicht nur weil der Wagen nun wieder leise gleitet, sondern auch deshalb weil das Auto  wieder straff und präzise zu steuern ist.

Allzeit gute und sichere Fahrt!

Klaas.